Der erste Tag in der Angkor Wat Anlage
Sonnenaufgang am Angkor Wat
Der Tag beginnt früh, viel zu früh für meinen Geschmack, aber der Sonnenaufgang über Angkor Wat ist ein Ritual, das man einfach mitmachen muss. Schon im Dunkeln mache ich mich auf den Weg, die Luft ist noch angenehm kühl, und überall um mich herum sammeln sich Menschen mit Kameras, Stativen und müden Gesichtern. Die Stille vor dem ersten Licht ist magisch, bis das Zwitschern der Vögel und das Raunen der Menge einsetzen. Als die Sonne langsam hinter den ikonischen Türmen aufsteigt, färbt sie den Himmel in ein pastellfarbenes Spektakel. Der Moment ist wunderschön, aber von Einsamkeit keine Spur: Um mich herum drängen sich Hunderte, jeder auf der Jagd nach dem perfekten Foto. Ich frage mich, wie all die menschenleeren Bilder entstehen, wahrscheinlich mit Photoshop oder zu Zeiten, zu denen kein normaler Mensch unterwegs ist. Trotzdem: Die Atmosphäre ist elektrisierend und der Anblick bleibt unvergesslich.












Der Sandsteindamm und die Terrasse
Nach dem Sonnenaufgang schlendere ich über den 250 Meter langen Sandsteindamm, der wie ein steinerner Steg über den Wassergraben führt. Das Wasser spiegelt die ersten Sonnenstrahlen und die Silhouette des Tempels, während Lotusblüten sanft auf der Oberfläche treiben. Der Damm fühlt sich an wie eine Schwelle zwischen zwei Welten: Hinter mir das geschäftige Siem Reap, vor mir das Reich der Khmer. Am Ende des Damms erwartet mich eine breite Terrasse, die als Vorhof zum Tempel dient. Hier atme ich einmal tief durch und lasse den Blick schweifen, die Dimensionen sind überwältigend und machen Lust auf mehr.



Der Angkor Wat Gateway
Der Haupteingang, auch Gateway genannt, ist ein imposanter Auftakt. Die steinernen Türme ragen wie Wächter in den Himmel, kunstvoll gemeißelte Reliefs zieren die Wände. Ich beobachte, wie Mönche in orangefarbenen Roben durch das Tor schreiten, gefolgt von neugierigen Kindern, die sich gegenseitig necken. Ein Moment, der die Spiritualität des Ortes spürbar macht. Der Gateway ist nicht nur Zugang, sondern auch eine Art Schwelle in eine andere Zeit, ich stelle mir vor wie einst Pilger und Würdenträger diesen Weg beschritten haben.








Die North Library
Links vom Damm steht die North Library, ein kleiner, aber feiner Bau, der 1999 liebevoll restauriert wurde. Die Steine wirken fast frisch, die filigranen Verzierungen sind erstaunlich gut erhalten. Was genau in diesen sogenannten ‚Bibliotheken‘ aufbewahrt wurde, weiß bis heute niemand so genau. Vielleicht heilige Schriften, vielleicht wertvolle Reliquien. Ich treffe einen älteren Tempelwächter, der mir mit einem verschmitzten Lächeln erklärt, dass es hier früher ‚viele Geschichten, aber wenig Bücher‘ gab. Ein schöner Gedanke, der die Magie des Ortes unterstreicht.






Die Terrace of Honor
Der nächste Halt ist die Terrace of Honor, ein Eingang, der einst ausschließlich dem König vorbehalten war. Ich stelle mir vor, wie Suryavarman II. hier in prächtigen Gewändern stand, umgeben von seinen Beratern und Soldaten. Heute schreiten Touristen über die Schwelle, aber ein Hauch von Exklusivität ist geblieben. Die Steinplatten sind von Jahrhunderten abgelaufen, und dennoch strahlen sie eine stille Würde aus. Ich lehne mich kurz an eine der Säulen und genieße das Gefühl, Teil dieser Geschichte zu sein.






Die Geschichte des Angkor Wat
Im 10. Jahrhundert wurden unter Yasovarman I. zahlreiche Bewässerungsanlagen und Stauseen angelegt, die unter anderem dazu beitrugen, dass mehrmals im Jahr Reis geerntet werden konnte. Diese erfolgreiche Landwirtschaft führte zu Nahrungsüberschüssen und brachte dem Khmer-Reich großen Reichtum. So kam es, dass das südlich von China gelegene Land zu einem regionalen Machtzentrum Südostasiens wurde und die Khmer in der Lage waren, große Städte und gewaltige Tempelanlagen zu errichten.
Im Jahr 1113 bestieg König Suryavarman II. den Thron und regierte bis etwa 1150. Er baute die Macht Angkors, damals Kambuja genannt, in mehreren Kriegszügen gegen die benachbarten Cham, gegen Dai Viet und das Mon-Königreich Haripunjaya weiter aus. Daneben ließ er Tempelanlagen in Angkor restaurieren und neue errichten, darunter Angkor Wat. Die Anlage wurde als Staatstempel des Königs im südöstlichen Teil der schon unter Suryavarman I. errichteten früheren Hauptstadt Yasodharapura erbaut und diente der Verehrung Vishnus. Es gibt auch Hinweise, wie etwa die ungewöhnliche Ausrichtung Angkor Wats nach Westen, der Himmelsrichtung des Todesgottes Yama, die dafür sprechen, dass es der Totentempel Suryavarman II. war.
Da weder die Gründungsstele noch andere Inschriften aus dieser Zeit aufgefunden wurden, die sich auf das Bauwerk beziehen, ist der ursprüngliche Name unbekannt. Es wird angenommen, dass es nach Vishnu benannt wurde, mit dem sich der König als Vishnuist im Unterschied zu seinen Vorgängern, die Shivaisten gewesen waren, identifizierte, und demnach Vrah Vishnuloka hieß und später, angelehnt an den posthumen Titel des Gründers Paramavishnuloka, Preah Pisnulok. Die Arbeiten scheinen rasch nach dem Tod des Königs eingestellt worden zu sein, so dass einige der Reliefs unvollendet blieben. Im Jahr 1177 wurde Angkor von den Cham, traditionellen Feinden der Khmer, erobert. Jayavarman VII. gelang es schließlich, die Invasoren zu besiegen und das Khmerreich wiederherzustellen. 1,5 km nördlich von Angkor Wat ließ er die neue Hauptstadt Angkor Thom mit dem Bayon als buddhistischen Haupttempel errichten.
Im späten 13. Jahrhundert wandelte sich Angkor Wat vor dem Hintergrund der durch Jayavarman VII. initiierten religiösen Revolution nach und nach von einer hinduistischen Kultstätte in eine des Theravada-Buddhismus. Zu dieser Zeit wurde Angkor Wat zum Namen des Tempelkomplexes. Anders als die anderen Tempel Angkors verwahrloste die Anlage zwar im 16. Jahrhundert etwas, wurde aber nie vollständig verlassen. Die im Vergleich gute Erhaltung hängt mit dem Wassergraben zusammen, der Angkor Wat gegen das Vordringen des Waldes schützt.
Einer der ersten Besucher aus dem Westen war der portugiesische Kapuziner Antonio da Magdalena, der 1586 nach Angkor kam. Er beschrieb seinen Eindruck von Angkor Wat dem portugiesischen Historiker Diogo de Couto zufolge „als so außergewöhnlich, dass man es weder mit einem Stift beschreiben, noch mit einem anderen Monument in der Welt vergleichen kann.“ In den nächsten Jahrhunderten blieben es Missionare und Kaufleute aus dem Westen, die Angkor Wat Beachtung schenkten. Dies änderte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als ausgelöst durch die begeisterten Reiseberichte des französischen Naturalisten Henri Mouhot, der die Tempelanlage 1860 erkundete, Forscher auf Angkor Wat aufmerksam wurden und ihm folgten, wie zum Beispiel Adolf Bastian und Ernest Doudart de Lagrée. Die ersten Fotografien von Angkor Wat machte 1865 der Schotte John Thomson. Mouhot datierte Angkor Wat auf die Antike und konnte sich einen Bau durch die Khmer, auch aus der damaligen historischen Situation heraus, nicht vorstellen. Er verglich Angkor Wat mit dem Tempel Salomos, von einem antiken Michelangelo errichtet.
Im 20. Jahrhundert wurde Angkor Wat intensiv von dem französischen Institut École française d’Extrême-Orient restauriert und erstmals von 1908 bis 1911 unter der Leitung von Jean Commaille von Erde und Vegetation befreit. Die tatsächliche Geschichte wurde von da an durch diese und weitere Renovationen und damit zusammenhängende stilistische und epigrafische Befunde auf dem gesamten Gelände erschlossen. Der Bürgerkrieg und die Herrschaft der Roten Khmer unterbrachen diese Arbeiten. Das Monument blieb unbeschädigt, doch Statuen, meist aus der Post-Angkor-Zeit, wurden gestohlen oder zerstört.
Der Tempel ist ein Nationalsymbol und beeinflusst auch die internationalen Beziehungen zu Thailand, Frankreich und den Vereinigten Staaten. Angkor Wat ist seit ihrer ersten Version von ungefähr 1863 auf der Nationalflagge Kambodschas abgebildet. So war es auch das kulturelle Erbe Angkor Wats und Angkors insgesamt, welche die Franzosen dazu motivierte, Kambodscha 1863 zu kolonisieren und der Vorherrschaft von Vietnam und Siam zu entreißen. Dies führte zu Forderungen Kambodschas an Thailand im Nordwesten des Landes, welches die Thai 1431 erobert hatten. Seit seiner Unabhängigkeit 1953 kontrolliert Kambodscha Angkor Wat. Inmitten des Vietnamkriegs besuchte Jacqueline Kennedy auf Einladung des Königs den Tempel.














Die Galerien und Reliefs
Der Komplex von Angkor Wat besteht aus rechteckigen Gehegen oder Galerien. Die Wände des Geheges weisen das längste durchgehende Basrelief der Welt auf, das entlang der äußeren Galeriewände verläuft und Geschichten aus der hinduistischen Mythologie erzählt. Die Masse der Reliefschnitzereien ist von höchster Qualität und die brillanteste Khmer-Kunst. Die Schnitzerei erzählt immer eine Art Geschichte.
Auf dem Nordflügel des Westflügels der zweiten Reihe oder an den Wänden des westlichen Haupteingangs zeigt das Basrelief die Schlacht von Lanka und der Südflügel die Schlacht von Kurukshetra. Die südliche Einfriedung, das Flachrelief des Westflügels zeigen die historische Prozession und der Südflügel Himmel und Hölle. Die Ecke, an der sich die südlichen und östlichen Gehege treffen, zeigt das Aufwirbeln des Milchmeeres. Die Ecke, an der sich die nördliche und die östliche Umfriedung treffen, und entlang des Ostflügels der nördlichen Umfriedung zeigen den Sieg von Vishnu über Asuras. Der Westflügel des nördlichen Geheges zeigt die Schlacht von Devas und Asuras.
Das Überqueren der kreuzförmigen Terrasse und aufsteigende Treppen, die durch drei aufeinanderfolgende Galerien führen, führen zur Dritten Galerie, die für ihre außergewöhnlichen Flachreliefs bekannt ist, die wunderschön durchgehend in die Wände geschnitzt sind, 700 m lang, 2 m hoch, die längsten Reliefs der Welt. Es gibt buchstäblich Tausende von Figuren aus den hinduistischen Epen und den Höfen von Suryavarman II. Suryavarman II ist im Westflügel der Südgalerie des Flachreliefs in Angkor Wat dargestellt. Er thront majestätisch und spricht mit Brahmanen des Hofes, von denen einer ein Manuskript in den Händen hält, vielleicht eine Liste von Würdenträgern der Armee, die am König vorbeimarschieren. Der König sitzt auf einem mit Teppichen bedeckten Thron, umgeben von Höflingen mit Regenschirmen, Fächern und Fliegenwedeln.
Zuerst einmal die „Heaven and Hell Gallery“ an der Ostseite der Südwand.








Die Vishnu Conquers Demons Gallery
In dieser Galerie wird der Sieg Vishnus über die Dämonen dargestellt, ein zentrales Motiv der hinduistischen Mythologie. Die Szenen sind dynamisch, fast lebendig: Vishnu, umgeben von seinen Gefolgsleuten, kämpft gegen die Mächte des Chaos. Die Reliefs sind so detailreich, dass ich mich frage, wie viele Jahre und wie viele Hände an ihnen gearbeitet haben. Besonders spannend finde ich, wie die Geschichten hier nicht nur erzählt, sondern regelrecht inszeniert werden. Ich bleibe lange stehen und lasse die Szenen auf mich wirken.








Die Apsaras
Apsaras sind übernatürliche Wesen in der hinduistischen und buddhistischen Mythologie, die als junge Frauen von großer Schönheit und Eleganz erscheinen. Sie beherrschen die Kunst des Tanzens. Sie sind die Frauen der Gandharvas, Hofdiener von Indra. Sie tanzen zur Musik ihrer Ehemänner, meist in den Palästen der Götter, und unterhalten Götter und gefallene Helden. Als Hinduismus und Buddhismus Einzug in Kambodscha hielten, wurde Apsara zu einem Symbol der Tanzkunst. Die Wände vieler angkorianischer Tempel sind innen und außen mit Flachreliefs und Schnitzereien bedeckt, darunter Apsara. Fast 2.000 charakteristische Apsara-Schnitzereien schmücken die Wände von Angkor Wat. An den Wänden und Säulen des Bayon-Tempels sind auch andere feine Apsara-Schnitzkünste zu finden.








North Thousand God Library
Die North Thousand God Library ist ein weiteres Beispiel für die geheimnisvollen Bibliotheken von Angkor. Auch hier sind die Wände mit Reliefs geschmückt, die von Göttern und Legenden erzählen. Ich treffe einen jungen Mönch, der mir erklärt, dass diese Orte oft als Rückzugsorte für Meditation und Studium genutzt wurden. Die Atmosphäre ist ruhig, fast andächtig, und ich genieße einen Moment der Stille abseits der Besucherströme.












Northern Thousand God Library
Die Northern Thousand God Library ähnelt ihrer Schwester im Norden, ist aber noch etwas abgelegener. Hier scheint die Zeit stillzustehen. Ich lasse mich auf eine der Steinbänke nieder und beobachte, wie das Licht durch die geöffneten Fenster fällt und Muster auf den Boden zaubert. Ein perfekter Ort, um die Eindrücke des Tages Revue passieren zu lassen und sich vorzustellen, wie viele Generationen von Gläubigen und Gelehrten hier schon verweilt haben.
















